Von Doris Pfabigan
Die vorliegenden Materialien schließen an einem Verständnis der Leiblichkeit im Sinn der Phänomenologie an, die versucht, den dualistischen Gegensatz von Körper und Geist, Bewusstsein oder Seele zu überwinden. Diese Denktradition geht davon aus, dass der Zugang zu sich selbst, zu anderen und zur Welt erst durch den Leib möglich ist. Der Leib dient den Menschen als soziale und kommunikative Verankerung des Körpers in der intersubjektiven Welt. Er konstituiert unsere Existenz und ist an allem beteiligt, an physiologischen Vorgängen, am Empfinden, Vorstellen, Wahrnehmen und Denken. Selbstbestimmung und Freiheit können durch die Möglichkeit, sich den Körper zu eigen zu machen, ihn zu beherrschen und sich in ihm darzustellen, realisiert werden, anstatt ihm nur ausgeliefert zu sein (vgl. Fuchs 2008, 105). Doch in manchen Situationen wie Krankheit oder Beeinträchtigung entzieht sich der Leib mehr oder weniger unserer Verfügung und wird dadurch zum Körper, an den eine Person gebunden ist. Die Situation, dass der Mensch immer schon sein Körper ist (Kopf, Rumpf, Arme, Organe usw.), aber anders als das Tier zu diesem Distanz einnehmen kann, bezeichnet der Philosoph Helmuth Plessner (vgl. 1950, 49) als „exzentrische Position“. Das Bewusstsein der eigenen Erscheinung vor den Blicken der anderen sowie das eigene Erleben und die damit verbundene Vorstellung des Körpers prägen das Körperbild einer Person. So sehr wir Aspekte wie unsere leiblichen Gewohnheiten, unsere Gestik und Mimik als natürlich gegebene Aspekte unserer Identität ansehen, so sehr sind sie doch sozial überformt: durch die Identifizierung mit Anderen und durch die Imitation von Anderen. Diese Erfahrung mit Anderen, die sich in leiblichen Dispositionen niederschlagen, wird als „Inkorporation“ bezeichnet (vgl. Fuchs 2000, 129).
Die leibliche Situiertheit des Menschen bedingt aber auch, dass er verletzlich und in vielen Phasen seines Lebens auf die verlässliche Hilfe seinesgleichen angewiesen und letztendlich sterblich ist. Vor dem Hintergrund dieser phänomenologischen Überlegungen zur Leiblichkeit (vgl. ausführlicher Pfabigan 2012) lassen sich im Unterricht jene Ethikkonzeptionen kritisch hinterfragen, welche die Vernunftfähigkeit des Menschen und damit verbunden die Fähigkeit der moralischen Autonomie als Ausgangspunkt der moralischen Rücksichtnahme bestimmen (siehe Materialien Ein bescheidener Vorschlag). Ebenso kann die phänomenologische Sicht der Leiblichkeit mit philosophischen Konzeptionen in Beziehung gesetzt werden, die von einer Trennung von Körper, Geist, Vernunft und Neigung ausgehen. (siehe Materialien Das Auge in der Schatulle)
Die Einsicht, dass soziale Normen wie Leistungsfähigkeit, Attraktivität, Unversehrtheit usw. inkorporiert werden, kann auch dazu anregen, diese als natürlich scheinenden Vorstellungen vom Körper sichtbar und hinterfragbar zu machen (siehe Materialien Körper und Macht, Eine Norm für das Normale?). Um Sensibilität für die Bedürfnisse besonders verletzlicher Personengruppen zu wecken, kann es hilfreich sein, deren spezifische Erfahrungen in bioethische Überlegungen miteinzubeziehen (siehe Materialien Betroffenensicht). Diese können dazu anregen, eigene Normalitätsvorstellungen, Denk- und Handlungsmuster zu hinterfragen und neue Fragehorizonte, Möglichkeits- und Zielperspektiven zu eröffnen (siehe Materialien 41 % Behinderte, Blickwechsel, Nie zu spät für Sex und Zärtlichkeit, Altersvielfalt).
Literatur
Fuchs, Thomas (2000): Leib – Raum – Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart.
Fuchs, Thomas (2008): Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays. Zug.
Pfabigan, Doris (2012): Leiblichkeit und Anerkennung. Bedürftigkeit und Verletzlichkeit als Ausgangspunkt ethischer Reflexionen. In: dies./Zelger, Sabine (Hg.): Mehr als Ethik. Reden über Körper und Gesundheitsnormen im Unterricht. Wien, 77–86.
Plessner, Helmuth (1950): Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens. Bern.