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Anerkennung

Von Doris Pfabigan

Die hier vorliegenden Lehr- und Lehrmaterialien sollen zu einer ethisch motivierten Gesellschaftskritik anregen. Dazu ist es notwendig, nach Voraussetzungen des guten individuellen Lebens in der Gesellschaft zu fragen. Um das Gute für den Menschen zu ermitteln, braucht es zumindest eine Minimalvorstellung darüber, was das Wesen des Menschen ausmacht. Als eine der Grundgegebenheiten des Menschseins gilt, dass wir als sozial ausgerichtete Lebewesen nicht nur auf die Erfüllung körperlicher Grundbedürfnisse angewiesen sind, sondern auch auf die Anerkennung durch andere. Dieser Umstand macht Menschen auf spezifische Weise verletzbar und verlangt nach einem Schutz im moralischen Sinn. Eine solche Forderung enthält eine grundlegende ethische Auffassung des Guten, die Sinn und Umfang des moralisch Richtigen vorgibt (vgl. Honneth 2000, 185). Die moralischen Rechte und Pflichten müssen auf die Sicherung jener intersubjektiven Bedingungen ausgerichtet sein, die es Personen ermöglichen, eine positive Selbstbeziehung auszubilden, aufrechtzuerhalten und Lebensziele selbstbestimmt realisieren zu können (vgl. Honneth 2010, 111).

Um deutlich zu machen, was unter Anerkennung im Sinne Axel Honneths verstanden werden kann, ist es hilfreich, den Unterschied zwischen „Erkennen“ und „Anerkennen“ zu reflektieren: Jemanden „erkennen“ – zum Beispiel als Menschen oder konkreter als SchülerIn, DirektorIn – ist mit einem nicht-öffentlichen kognitiven Akt der individuellen Identifikation verbunden. „Anerkennung“ dagegen wird in ihrer elementarsten Form in symbolischen Handlungen wie Mimik und Gestik geäußert, die eine grundsätzlich befürwortende Einstellung signalisieren (vgl. Honneth 2003, 15). Je nach Komplexitätsgrad der sozialen Interaktion und je nach kulturellen Gegebenheiten mus Anerkennung in angemessenen Verhaltensweisen zum Ausdruck gebracht werden (vgl. Honneth 2010, 121). Wenn es um das gesellschaftliche Zusammenleben geht, dann gewinnen durch Anerkennungsakte ausgedrückte Wertaussagen oder Praktiken erst dann Glaubwürdigkeit, wenn über die symbolische Ebene zudem materielle Mittel zur Verfügung gestellt und/oder entsprechende institutionelle Maßnahmen getroffen werden: beispielsweise dadurch, dass Menschen mit Behinderungen neben der formalen gesetzlichen Gleichstellung auch ein Besuch von Regelschulen oder eine Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglicht wird. Dies den Betroffenen zuzugestehen, reicht allerdings keineswegs. Vielmehr müssen sie aktiv unterstützt werden, indem in Schulen, an Arbeitsplätzen und in öffentlichen Verkehrsmitteln für Barrierefreiheit gesorgt wird, dass StützlehrerInnen zur Verfügung stehen usw.

Im Sinne der unterschiedlichen Ausdrucksformen und AdressatInnen von Anerkennung konzipiert Honneth, aufbauend auf Hegel und Mead, drei Formen der sozialen Anerkennung, auf die das Subjekt in modernen kapitalistischen Gesellschaften angewiesen ist. Sie sind in den Prinzipien der Liebe, der rechtlichen Gleichbehandlung und der sozialen Wertschätzung angelegt (vgl. Honneth 2000, 187). Die erste und basalste Form der Anerkennung, die sich am Prinzip der Liebe orientiert, zeichnet sich dadurch aus, dass ein Individuum mit seinen Bedürfnissen und Wünschen als in seinem Wert einzigartig von konkreten Personen anerkannt wird. Das Selbstverhältnis, das sich dadurch ausbildet, ist das des existenziellen Selbstvertrauens (vgl. ebd.). Eine kognitiv vermittelte Selbstachtung kann eine Person dann entwickeln, wenn sie als Mitglied eines Gemeinwesens an dessen institutioneller Ordnung gleichberechtigt partizipieren kann. Diese Anerkennungsform trägt damit den Charakter einer Gleichbehandlung und wird von Honneth im Rückgriff auf die Kantische Tradition mit dem Begriff des „moralischen Respekts“ belegt (vgl. ebd.). In der dritten Sphäre wird eine Person durch ihre Fähigkeiten anerkannt, welche für eine konkrete Gemeinschaft von konstitutivem Wert sind. Gemeint ist die wertgebundene Sorge um das Wohlergehen des Anderen im Lichte gemeinsamer Ziele. Wenn nun Anerkennungsmodi so beschaffen sind, dass sie nicht dazu motivieren, ein bejahendes Selbstbild zu entwickeln bzw. aufrechtzuerhalten, sondern einen gesellschaftlichen Ausschluss der Betroffenen forcieren, spricht Honneth, Bezug nehmend auf Hans-Uwe Rösner (2002), von „normalisierender Anerkennung“ (2010, 120). 

Im Ethikunterricht können anerkennungstheoretische Überlegungen als Matrix dienen, um moralische Normen und scheinbare Selbstverständlichkeiten zu prüfen: Zu welchen Praxisformen führen sie? Inwiefern haben sie einschränkenden, diskriminierenden oder ausschließenden Charakter (siehe Materialien IKEA-Identität41 % Behinderte?Nie zu spät für Sex und ZärtlichkeitBlickwechsel)? Eine solche Perspektive bezieht auch Fragen danach mit ein, welche Lebensformen als sozial wertvoll, welche als „lebensunwert“ gelten und wodurch Menschen aufgefordert werden, sich im Namen der Gesundheit im Hinblick auf definierte Ziele (Gesundheitsverbesserung, Lebensverlängerung, Leistungssteigerung, Erhöhung der Lebensqualität) in bestimmter Weise zu verhalten (siehe Materialien Griff ins GehirnEin bescheidener VorschlagKöper und Macht). Ebenso lässt sich danach fragen, welche Personen oder Personengruppen besonders gefährdet sind, Missachtungen in Form von Vorenthaltungen oder Entzug von Anerkennung ausgesetzt zu werden und damit von wichtigen Voraussetzungen des guten gelingenden Lebens ausgeschlossen zu sein. Nicht zuletzt geht es auch darum, auf der Grundlage anerkennungstheoretischer Überlegungen alternative Lösungsansätze zu diskutieren und kreative Veränderungspotentiale auszuloten (siehe Materialen 41 % Behinderte?BlickwechselNur zwei Flugstunden entferntBetroffenensicht).

 

Literatur

Honneth, Axel (2010): Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie. Frankfurt am Main.

Honneth, Axel (2003): Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität. Frankfurt am Main.

Honneth, Axel (2000): Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie. Frankfurt am Main.

Rösner, Hans-Uwe (2002): Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zum Verhältnis von Macht und Behindertsein. Frankfurt am Main.

Weiterführende Literatur

Dederich, Markus/Schnell, Martin W. (Hg.) (2011): Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin. Auf dem Weg zu einer nichtexklusiven Ethik. Bielefeld.

Dederich, Markus (2002): Schwere Behinderung im Kontext von Ethik, Medizin und Pädagogik. Verfügbar unter: http://www.lebenshilfe.de/wDeutsch/aus_fachlicher_sicht/downloads/Dederich-Ethik2.pdf (download am 5.6.2012).

Perko, Gudrun (2004): Wie soll ich dich behandeln? Über das Ethos der Anerkennung als ethische Grundlage des Dialoges. In: Quer – denken schreiben, lesen Nr.10, 6–15. Verfügbar unter: http://www.perko-profundus.de/pub/Ethik%20und%20Soziale%20Arbeit.pdf (download am 27.8.2012).

Pfabigan, Doris (2012): Leiblichkeit und Anerkennung. Bedürftigkeit und Verletzlichkeit als Ausgangspunkt ethischer Reflexionen. In: dies./Zelger, Sabine (Hg.): Mehr als Ethik. Reden über Körper und Gesundheitsnormen im Unterricht. Wien, 77–86.