Darf man alles, was man kann?
Anwendungsorientierte praktische Technik greift in die Natur ein und beeinflusst die Lebensbedingungen der Einzelnen sowie der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, indem sie neue Formen von Praxis schafft. Technik ist damit nicht nur eine Frage des Könnens, sondern auch eine des Dürfens und Sollens, enthält also immer ethische Aspekte. Gegenwärtig werden in der Europäischen Union beträchtliche Ressourcen in die Entwicklung „Assistiver Technologien“ investiert. Diese Technologien sollen dazu beitragen, Einschränkungen des Sehens, Hörens, der Mobilität sowie kognitive Einschränkungen zu kompensieren und betroffenen Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Erwartet wird ebenso, dass durch den Einsatz „Assistiver Technologien“ Kostenersparnisse zu erzielen sind (vgl. BKA, Geschäftsstelle der Bioethikkommission 2010). Auch wenn diese Entwicklungen in verschiedener Hinsicht vielversprechend sind, so stellen sich doch wichtige ethische Fragen in Bezug auf verschiedene NutzerInnengruppen und Anwendungsbereiche. Ziel ist es, anhand unterschiedlicher Texte bzw. Perspektiven ethische Fragen im Zusammenhang mit der Entwicklung und Anwendung kenntlich zu machen und Handlungsoptionen zu erarbeiten.Unterichtsablauf
Zu Beginn informieren die Lehrenden darüber, was unter „Assistiven Technologien“ verstanden wird und geben dazu einige Beispiele. Die Lernenden ergänzen weitere Beispiele. Indem die unterschiedlichen Technologien auf Flipcharts oder Tafel sichtbar notiert werden, wird das umfangreiche Spektrum von der einfachen Gehhilfe bis zum automatischen Alarmsystem für Notfallsituationen kenntlich. Anhand der Stellungnahme der Bioethikkommission (Assistive Technologien) werden im Anschluss ethische Aspekte thematisiert. Dazu kann auch der Hintergrundartikel Technik und Ethik herangezogen werden.
Variante 1
Die Lernenden recherchieren in Gruppen Informationen zu ausgewählten Technologien (z.B. Ambient Assisted Living, Cochlear Implantat, Telemonitoring in der Pflege, Pflegeroboter). Dabei soll auf folgende Fragestellungen eingegangen werden:
- Wie viele Einträge finden sich dazu im Internet?
- Für welche Probleme soll die jeweilige Technologie eine Lösung bieten?
- Welche Quellen (BetreiberInnen der Homepages, VerfasserInnen der Artikel usw.) werden für die Ausführungen herangezogen? Welche Gründe stecken dahinter?
- Finden sich zu den ausgewählten Themen auch Stellungnahmen von Betroffeneninitiativen (z.B. Selbsthilfegruppen) und welche Aspekte werden aus dieser Perspektive vorgebracht?
- Welche ethischen Fragestellungen werden in den verschiedenen Quellen thematisiert?
- Welche ethischen Fragen stellen sich der Recherchegruppe, die in dem gefundenen Material nicht zur Sprache gebracht werden?
Die Gruppen stellen ihre Ergebnisse im Plenum vor. Dabei soll genug Zeit eingeräumt werden, die Ergebnisse und Eindrücke zu diskutieren. Die thematisierten ethischen Aspekte können gesammelt und in unterschiedlichen Hinsichten geclustert werden: Betreffen sie die Ebene der Technikentwicklung oder der Anwendung, Fragen der Autonomie und gesellschaftlichen Teilhabe, der Gerechtigkeit, des Datenschutzes oder andere Aspekte? Abschließend wird zusammengefasst, unter welchen Bedingungen die besprochenen Technologien zu einem guten Leben in der Gemeinschaft sowie zu einer gerechten Gesellschaft beitragen könnten und wo dabei die Grenzen des Technologieeinsatzes liegen.
Variante 2
Technische Projekte werden während des Entwicklungsprozesses anhand der Ethik-Leitlinien, die im Rahmen des Projekts „ethik&gesundheit“ entwickelt wurden, in Bezug auf ethische Aspekte diskutiert (Anregungen dazu siehe im von Schülern verfassten Beitrag von Eisenecker u.a. 2012). Diese Übung kann aber auch anhand bereits realisierter Projekte gehalten werden. Beispielsweise können die Diplomarbeiten von zwei Maturantengruppen der HTL Mistelbach herangezogen werden:
Walkassist von Daniel Gepp und Kevin Pajestka
Das Entwicklungsteam des Walkassists hat sich vorgenommen, im Rahmen der Diplomarbeit auf oder in ein vorhandenes Schuhpaar ein per Ultraschallsensoren gefertigtes Warnsystem zu konstruieren. Diese Sensoren sollen in der Lage sein, Hindernisse früh genug zu erkennen und den sehbeeinträchtigten Menschen zu warnen. Weiters wird in den Schuh ein so genannter Lagesensor eingebaut. Dieser erkennt die Lage des Schuhs und ob sich die AnwenderInnen in einer aufrechten Position befinden oder am Boden liegen. Der Sensor informiert andere Personen, falls der/die AnwenderIn gestürzt ist und nicht von selbst aufstehen kann.
Infrarotgesteuerter Drehmechanismus von Simon Frühwirth, Franz Eisenecker, Maximilian Jauk
Bei diesem Projekt handelt es sich um einen infrarotgesteuerten Drehmechanismus zur Ausrichtung von Unterhaltungsgeräten. Dieser soll es bewegungsunfähigen bzw. in ihren Bewegungen stark eingeschränkten Menschen möglich machen, auch ohne fremde Hilfe ein TV-Gerät, eine Stereoanlage etc. gut nutzen zu können (direkte Ausrichtung auf ZuseherInnen bzw. ZuhörerInnen). Ziel ist es, dieses Gerät möglichst bedienerInnenfreundlich zu entwickeln.
Variante 3
Unter Einbeziehung der Betroffenensicht wird herausgearbeitet, inwiefern ausgewählte „Assistive Technologien“ (Beispiele siehe oben) Möglichkeiten der Selbstbestimmung von Menschen mit chronischen Erkrankungen oder körperlichen Beeinträchtigungen unterstützen. Welche anderen Aspekte sind darüber hinaus noch von Bedeutung? Diese Variante lässt sich gut mit den Übungen Blickwechsel und 41 % Behinderte? verknüpfen.
Wenn es darum gehen soll, pflegespezifische Aspekte im Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Einsatz neuer Technologien zu thematisieren, können Ausführungen von Manfred Hülsken-Giesler (2011) herangezogen werden, der sich mit dieser Thematik intensiv auseinandergesetzt hat.
Anregungen und Hinweise
Mit der Bearbeitung von "ernsten moralischen Fragen" (Böhme 1997 in Manzeschke 2013, 5) beschäftigen sich auch Arne Manzeschke, Karsten Weber, Elisabeth Rother und Heiner Fangerau. Sie stellen in ihrer Studie "Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme" unter anderem das Analyseinstrument MEESTAR vor. Mit dessen Unterstützung lassen sich ethisch bedenkliche Effekte Assistiver Technologien auf strukturierte Weise identifizieren und Lösungsmöglichkeiten entwickeln.
Literatur
Bundeskanzleramt, Geschäftsstelle der Bioethikkommission (2010): Assistive Technologien. Ethische Aspekte der Entwicklung und des Einsatzes Assistiver Technologien. Stellungnahme der Bioethikkommission beim Budeskanzleramt 13. Juli 2009. Verfügbar unter: http://www.bka.gv.at/DocView.axd?CobId=39411 (download am 23.8.2012)
Eisenecker, Franz/Frühwirth, Simon/Gepp, Daniel/Jauk, Maximilian/Pajestka, Kevin/Rubey, Markus/Salomon, Heinrich (2012): Angewandte Ethik an einer technischen Schule. Ein Gewinn an Erfahrungen und Eindrücken. In: Doris Pfabigan/Sabine Zelger (Hg.): Mehr als Ethik. Reden über Körper und Gesundheitsnormen im Unterricht. Wien, 141–153.
Hülsken-Giesler, Manfred (2011): Neue Technologien in der häuslichen Umgebung älterer Menschen – Anforderungen aus pflegewissenschaftlicher Perspektive. In: Hartmut Remmers (Hg.): Pflegewissenschaft im interdisziplinären Dialog. Eine Forschungsbilanz. Göttingen, 315–342.
Manzeschke, Arne/Weber, Karsten/Rother, Elisabeth/Fangerau, Heiner (2013): Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme. Eine Studie im Auftrag der VDI/VDE+Technik GmbH im Rahmen der vom Bundesministerium für Bildung und Foschung (BMBF) beauftragten Begleitforschung.