Griff ins Gehirn
Durch die Forschung werden immer mehr Eingriffe und Zugriffe auf das Gehirn möglich, die auch mit Perönlichkeitsveränderungen verbunden sein können. Ist das ethisch vertretbar? Inwiefern wird die Autonomie der Betroffenen tangiert? Welche Fragen der Gerechtigkeit werden aufgeworfen? Schon heute sind pharmazeutische Mittel am Markt, die nicht nur therapeutischen Zwecken dienen, sondern von gesunden Menschen dazu benutzt werden können, ihre geistige Leistungsfähigkeit zu steigern oder ihre Stimmung zu verbessern. Aufgrund der leichten Verfügbarkeit der pharmazeutischen Neuro-Enhancement-Präparate (NEPs) stellt sich die Frage, wie der Einzelne und wie die Gesellschaft mit den neuen ethischen Herausforderungen umgehen sollen. Um eine Auseinandersetzung anzuregen, die nicht nur um eine Pro- und Kontra-Argumentation kreist, ist es notwendig, die ethische Reflexion um Fragen nach dem Beziehungsgeflecht zwischen Wissenspraktiken, Machtprozessen und Formen der Subjektivierung zu erweitern.Unterrichtsablauf
Den Einstieg stellt eine Recherchearbeit zum Thema pharmazeutische Neuro-Enhancement-Präparate (NEPs) dar: Welche Präparate fallen darunter und welche Wirkstoffe enthalten sie? Im Anshluss daran werden zwei Texte gelesen. Das Memorandum Das optimierte Gehirn (Galert u.a. 2009) wurde von WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen verfasst, die für einen liberalen Umgang mit NEPs plädieren. Nicolas Langlitz nimmt dazu in seiner Replik „Hirn-Doping“ – eine Phantasmagorie Stellung, gibt Hinweise auf den Forschungsstand und geht kritisch auf die Rolle der Bioethik ein. Anhand dieser beiden Artikel können in Anlehnung an die Ausführungen von Thomas Lemke (vgl. 2007, 149ff.) (siehe auch Hintergrundartikel Machtkritik) folgende Aufgabenstellungen bearbeitet werden:
Zunächst gilt es zu erkunden, welche Deutungsmuster des Lebens von Menschen als „Wahrheit“ geltend gemacht werden, auf deren Hintergrund die Diskussion um pharmazeutische Neuro-Enhancement-Präparate (NEPs) stattfindet.
- Welchen wissenschaftlichen Disziplinen und ExpertInnen wird die legitime Autorität zugesprochen, die „Wahrheit“ zu diesem Thema zu sagen?
- Welches Wissen vom Körper und von Lebensprozessen wird in diesem Zusammenhang als relevant angesehen, welche Wirklichkeitsdeutungen werden dagegen abgewertet oder marginalisiert?
- Mit welchen Begriffen wird im Zusammenhang mit NEPs gemessen, kritisiert und bewertet?
- Welche Problemdefinitionen und Zielvorstellungen sollen im Hinblick auf die Leistungssteigerung des Gehirns zur gesellschaftlichen Anerkennung gebracht werden?
Die nächsten Fragen kreisen darum, wie Machtprozesse bestimmte Wissensformen hervorbringen und verbreiten. Mit diesen Fragestellungen können Ungleichheitsstrukturen, Wertehierarchien und Asymmetrien sichtbar gemacht werden, die durch biopolitische Praktiken (re-)produziert werden (vgl. Lemke 2007, 150) und in der ethischen Auseinandersetzung von Bedeutung sind:
- Welche Formen des Lebens werden als sozial wertvoll dargestellt, welche als weniger wertvoll?
- Wer profitiert in welcher Weise von der Durchsetzung des Glaubens an die Notwendigkeit einer Leistungssteigerung des Gehirns? Handelt es sich dabei beispielsweise um finanzielle Gewinne, politischen Einfluss, wissenschaftliches Ansehen oder soziales Prestige?
- Welche Personen oder Personengruppen werden dadurch benachteiligt?
- Welche Formen der Ausbeutung und Verwertung menschlichen Lebens können damit verknüpft sein?
Im dritten Fragenkomplex geht es darum, welche Interpretationsmöglichkeiten der Identitätsbehauptung in unserer Gesellschaft offenstehen. Welche Deutungsmuster stellen wissenschaftliche, religiöse, medizinische und andere Autoritäten zur Verfügung?
- Wie und wodurch werden Menschen dazu aufgefordert, sich im Hinblick auf definierte Ziele (Gesundheitsverbesserung, Lebensverlängerung, Leistungssteigerung, Erhöhung der Lebensqualität) in bestimmter Weise zu verhalten?
- Welche Körpernormen werden im Zusammenhang mit Neuro-Enhancement-Präparaten (NEPs) festgelegt?
- Wie werden Menschen dazu gebracht, ihr Leben als mehr oder weniger „lebenswert“ zu erfahren?
- Welches Selbstverständnis des modernen Menschen wird deutlich: der Mensch als neurobiologische Maschine, als von Genen gesteuerte Organismen usw.?
- Wie übernehmen Individuen wissenschaftliche Deutungsmuster und passen ihre Lebensführung daran an? (z.B. im Zusammenhang mit Gesundheitsverbesserung, Lebensverlängerung, Leistungssteigerung, Erhöhung der Lebensqualität, Schönheit, Alterungsprozessen usw.)
Zum Abschluss wird auf die Frage Bezug genommen, welche neuen Fragehorizonte und Denkmöglichkeiten sich durch diese Form der Auseinandersetzung für die Lernenden ergeben haben und wie ein verantwortungsvoller Umgang des Einzelnen und der Gesellschaft mit NEPs gestaltet werden könnte.
Literatur
Lemke, Thomas (2007): Biopolitik zur Einführung. Hamburg.
Galert, Thorsten/Bublitz, Christoph/Heuser, Isabella/Merkel, Reinhard/Repantis, Dimitris/Schöne-Seifert, Bettina/Talbot, Davinia (2009): Das optimierte Gehirn. In: Gehirn&Geist 11.
https://www.wissenschaftonline.de/sixcms/media.php/976/Gehirn_und_Geist_Memorandum.pdf
(download am 27.8.2012).
Langlitz, Nicolas (6.1.2009): Das Gehirn ist kein Muskel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. http://www.faz.net/aktuell/wissen/medizin/neuroenhancement-das-gehirn-ist-kein-muskel-1912020.html. (download am 27.8.2012).
Langlitz, Nicolas (2009): „Hirn-Doping“ – eine Phantasmagorie. Unveröffentlichte Version des Artikels „Das Gehirn ist kein Muskel“. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.