Ein bescheidener Vorschlag
Was bewegt uns dazu, bestimmte Zustände für besser oder schlechter zu halten, und welches Verhalten bewerten wir demnach als richtig oder falsch? Verschiedenste Antworten auf diese Frage finden sich in Jonathan Swifts 1729 verfassten Satire – „Ein bescheidener Vorschlag im Sinne von Nationalökonomen, wie Kinder armer Leute zum Wohle des Staates am Besten benutzt werden können“ – die sich als hochaktuell entpuppt. Der Text dient zur Reflexion unterschiedlicher Ethikkonzeptionen sowie sozialethischer und biopolitischer Fragen. Darüber hinaus können die Themen Gerechtigkeit und Intersektionalität diskutiert werden. Durch die literarischen Mittel der Satire, Übertreibung usw. lässt sich zeigen, wie eine scheinbar neutrale rationale Argumentation überaus problematische Wertungen und Abwertungen enthält. Inwiefern dies auch auf gegenwärtige Debatten zutrifft, spüren die Lernenden anhand von Medienbeiträgen und Reden über heute marginalisierte Gruppen nach.Unterrichtsbausteine
- Zuerst wird von Swifts Satire die Problemdarlegung der Kinderarmut gelesen (knapp 2 Seiten). Ohne die Offenlegung des provokanten Vorschlags zu kennen, setzen sich die Lernenden in Gruppen zusammen, arbeiten Lösungsvorschläge aus und stellen sie mittels Plakaten im Plenum vor.
- Nach der Lektüre des vollständigen Textes setzen sich die Lernenden mit den Positionen der Tugendethik des Utilitarismus und der Deontologischen Ethik auseinander. In Kleingruppen beschäftigen sie sich mit einer der drei Positionen, arbeiten die zentralen Aspekte heraus und diskutieren, mit welchen Argumenten der Vorschlag des fiktiven Redners abgelehnt bzw. befürwortet werden kann. Die theoretischen Positionen und die Diskussionsergebnisse werden im Plenum vorgestellt. Abschließend wird diskutiert, welche ethischen Argumente die Lernenden noch zusätzlich einbringen würden. Dabei kann von der Lehrkraft ergänzt werden, in welchen anderen Ansätzen diese Aspekte thematisiert werden.
Mögliche Fragen, die die Diskussion anleiten können: Gibt es neben Handlungen mit den bestmöglichen Folgen auch andere Handlungen mit moralischer Bedeutung? Inwiefern ist das Prinzip der Nutzenmaximierung in Bezug auf Fragen der Gerechtigkeit ungenügend? In welchem Maß soll der Einzelne am „größten Glück für die größte Zahl“ teilhaben: nach seinem moralischen Verdienst, nach seiner erbrachten Leistung, nach dem Prinzip der gleichen Güterverteilung?
- Die Lernenden analysieren die Rede, indem die zur Sprache gebrachten Gruppen nach intersektionalen, d.h. verschränkten Kategorien (Kreuzungen von Kategorien des Alters, Geschlechts, der Nationalität, Religion, Klasse, z.B. junge Mädchen, kinderreiche Mütter etc.) ausdifferenziert werden. Wie werden die jeweiligen Gruppen in der Gesellschaft, im Staat verortet: als Bedrohung, als benachteiligte Gruppe, als gute PatriotInnen etc.? Welche Ungleichheiten zeigen sich dabei? Welche Gruppen ziehen aus den jeweils vorgeschlagenen Lösungen Vorteile oder Nachteile? Wer soll die Last tragen, um das öffentliche Wohlergehen des Landes zu fördern? Wessen Glück zählt mehr oder weniger bei den provokanten Vorschlägen und wie begründet dies der Redner? (siehe dazu auch den Hintergrundartikel Intersektionalität)
Ein aktueller Bezug zu derartigen Argumentationen, die von Swift durch die Übertreibung demaskiert werden, wird hergestellt, indem Medienbeiträge zu heute marginalisierten Gruppen (z.B. BettlerInnen, Langzeitarbeitslose, AsylwerberInnen, PensionistInnen) recherchiert werden. Inwiefern werden auch hier auf scheinbar rationale Art und Weise Lösungen präsentiert? Wer spricht mit welchem Interesse?
- Die in Betrachtungen sozialer Fragen eingeschriebenen Werthorizonte können über eine Analyse der sprachlichen Mittel herausgearbeitet werden. Die Übersetzung von 1844, die als Abschrift sowie als Faksimile heruntergeladen werden kann, spiegelt die Zeit und im Unterschied zu aktuelleren, auch im Internet kursierenden Übersetzungen andere Konzeptionen von Gesellschaft. Zur Sensibilisierung sich verändernder Ordnungs- und Regelungsmodelle können Abweichungen zu heutiger Schrift und Rechtschreibung zusammengetragen werden. Sodann lassen sich Textabschnitte – auch in Abgleichung mit der englischen Fassung – dahingehend vergleichen, wie sich die Sicht auf die Gesellschaft verändert: Bettler von Profession oder berufsmäßige Bettler; Projektemacher oder Weltverbesserer; geworfenes Kind oder geborenes Kind; Futter oder Nahrung; ermorden oder töten; Weiber oder Frauen. Nach sprachlichen Besonderheiten können auch die recherchierten Medienbeiträge untersucht werden. Welche Wortneuschöpfungen gibt es? Finden sich darin – ähnlich den zu „Unworten des Jahres“ erklärten Begriffen wie „Humankapital“, „sozialverträgliches Frühableben“ – weitere „Unwörter“?
Varianten
- Weitere Überlegungen zu den ethischen Positionen bieten sich an, insofern Unterschiedliche Moraltheorien verlangen, dass ein neutraler, unvoreingenommener Standpunkt einzunehmen ist, um die Situation moralisch zu beurteilen (Interessenabwägung). Hier kann diskutiert werden, ob so ein Standpunkt überhaupt möglich ist.
- Der Text von Swift kann auch in Zusammenhang mit den theoretischen Artikeln zu Machtkritik, Leibichkeit und Anerkennung diskutiert werden, wo weitere Fragen formuliert sind.
- Anhand der unterschiedlichen Positionen von Peter Singer und Cora Diamond (siehe Kinder essen und Tiere essen) können verschiedene Sichtweisen auf den moralischen Status von Mensch und Tier diskutiert werden.
Anmerkungen/Hinweise
Weitere moralphilosophische Auseinandersetzungen mit Swifts Satire finden sich in: Michael Hauskeller (2001): Versuch über die Grundlagen der Moral. München.
Verwendete Literatur
Swift, Jonathan (1844): Ein bescheidener Vorschlag im Sinne von Nationalökonomen, wie Kinder armer Leute zum Wohle des Staates am Besten benutzt werden können. In: Swift’s Humoristische Werke. Bd. 1: Vermischte prosaische Schriften. Stuttgart, 29–42.